Hintergrund

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Der wohnungspolitische Hintergrund unseres Kampfes ist das (unsoziale und un-nachhaltige) System Sozialer Wohnungsbau. Wer dieses in Tiefe nachvollziehen möchte dem sei dieses Buch von uns nahegelegt „Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau“ oder auch unsere Website „nichts-läuft-hier-richtig“.

Weitere ausgewählte Texte hier (Klick) Zahlen und Fakten in unserer Broschüre zur Konferenz zum sozialen Wohnungsbau hier  zum Download KONFERENZ_HEFT_WEB_3

(Dieser Text ist vom Mai 2012) 

Sozialer Wohungsbau?

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„Sie sollten sich eine neue Wohnung suchen, wenn Sie die Mieterhöhung nicht bezahlen können“ sagt unser „Ansprechpartner“ Herr H. der Haus- und Vermögensverwaltung Hermes. Zum ersten April stand im sozialen Wohnungsbau am Kottbusser Tor wieder eine der jährlichen Mieterhöhungen an. Die Verzweiflung ist groß, war die Miete doch vorher schon kaum bezahlbar. Das Jobcenter hat kürzlich wieder Aufforderungen zur Senkung der „Kosten der Unterkunft“ geschickt.
Unsere Bitte, dieses Jahr die Mieterhöhung auszusetzen, schlägt der Immobilienverwalter aus und behauptet: „Wenn wir darauf verzichten, müssen wir es aus unserer eigenen Tasche bezahlen“. Wirklich? Die Immobilienfirma bekommt seit über dreißig Jahren unsere Steuergelder, die der Berliner Bürgerinnen und Bürger, damit sie bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellt, will aber nicht auf einen Bruchteil ihrer Rendite verzichten, die ihr gesetzlich zugesichert sind. Bei ihren hohen Profiten können sich die Herrschaften wohl gar nicht vorstellen, wie leer unsere Taschen sind. Jede zweite Familie am südlichen Kottbusser Tor hat nach Abzug der Miete noch 200,-€ pro Person zum Leben. Seit April sind es wieder ungefähr 10,- bis 20,-€ weniger. Gespart wird am Essen, Kultur und wo es eben noch geht. Möchten die Hausverwaltungen ihre langjährigen Mieter_innen loswerden, weil man jetzt in Kreuzberg teuerer vermieten kann? Wir leben hier seit mehreren Generationen. Unsere Mütter und Väter, Geschwister, Freunde und Freundinnen leben gleich nebenan. Wir sind Kreuzberg. Hier ist unser Zuhause. Die Stadt muss endlich etwas tun, um die Mieter_innen im sozialen Wohnungsbau zu schützen und nicht die Rendite der Eigentümer_innen! Eine Mietsenkung muss sofort herbeigeführt werden, kurzfristig und unbürokratisch, um die Verdrängung von Zehntausenden aufzuhalten!

Kostenmiete und Eigentümer-Rendite

Der soziale Wohnungsbau in Berlin ist ein Produkt der westdeutschen Subventionspolitik. Aus der hinlänglich bekannten und komplexen Geschichte hat sich eine Gesetzeslage ergeben, die den Eigentümer_innen seit über 30 Jahren viele Milliarden aus Steuergeldern in Form von „Aufwendungszuschüssen“ zusichert, damit sie bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. Dieser Aufgabe kommen sie heute jedoch nicht mehr nach. Selbst für die Jobcenter sind die „Kosten der Unterkunft“ im sozialen Wohnungsbau mittlerweile zu hoch. Da der damalige Finanzsenator Thilo Sarrazin angeblich dem Fördersystem 2003 ein Ende bereitet hat, werden jährlich Subventionen abgebaut. Das trifft jedoch die Mieter_innen, nicht die Eigentümer. Denn diese dürfen weiterhin die „Kostenmiete“ verlangen. Die „Kostenmiete“ ist das, was der Bau angeblich mal gekostet haben soll, ein auf den Quadratmeter umgerechneter Preis, der im sozialen Wohnungsbau zwischen 12,- und 18,-€ liegt. Die Mieter_innen zahlen davon einen Anteil, den Rest das Land Berlin in Form von „Aufwendungshilfen“. Die Stadt zahlt nun jährlich weniger und fordert zudem die Rückzahlung der „Aufwendungsdarlehen“ – wir, die Mieter_innen müssen das bezahlen.

Die hoch getriebenen Kostenmieten waren Teil des Angebots, mit dem sich die so genannten „Abschreibungsgesellschaften“ den sozialen Wohnungsbau finanzieren ließen. Ohne unternehmerisches Risiko für die Anleger_innen und Steuersparer sind ihnen so (seit den 1970er Jahren) hohe Gewinne gesetzlich garantiert worden. Diese Gesetze müssen zum Wohle Berlins geändert werden.

Die Eigentümergesellschaften haben aber derzeit noch ein gesetzliches Anrecht auf diese Mietforderungen. Durch diese Gesetzeslage bekommen die privaten Eigentümer Mieten von bis zu 18,-€/qm (kalt!) staatlich subventioniert. Kein anderer Hausbesitzer kann in Berlin so viel für den Quadratmeter kalt erzielen. Sobald die Förderung wegfällt – wie im Fanny-Hensel-Kiez derzeit oder wie in der Werner-Düttmann-Siedlung im nächsten Jahr – können die Vermieter von den Sozialmietern diese hohen Preise verlangen, was bedeutet, dass die allermeisten ausziehen müssen.

Was sind das für Gesetze, die privaten Eigentümern ein Anrecht auf Milliarden unserer Steuergelder zusichern? Wieso zwingt das Land Berlin gleichzeitig die Eigentümer zu Mieterhöhungen? Wenn der Rot-Schwarze Senat heute von neuen Subventionen für Neu- bauten spricht, um das Wohnungsproblem zu lösen, dann sehen wir die Gefahr, dass die Fehler das alten Schwarz-Roten Senats von 2001, der den Berliner Bankenskandal ausgelöst hat, wiederholt werden. Damals war die Regierung daran zerbrochen, dass bekannt wurde, dass Berlin pleite ist, weil privaten Eigentümern Rendite und Darlehen für sozialen Wohnungsbau gegeben wurden, die das Land Berlin nicht mehr bezahlen konnte. Von dieser Pleite zehrt Berlin noch immer und die zu hoch angelegten Baukosten aus den 1970ern treiben unsere Mieten weiter in die Höhe. In Berlin gibt es ca. 160.000 Sozialwohnungen. Heute schon liegen 40% der Sozialmieten über dem Vergleichsmietensystem. Das Land Berlin ist derzeit der Hauptmietpreistreiber im sozialen Wohnungsbau!

Was tut die Regierung für ihre abertausenden Bürgerinnen und Bürger, die von ihrer Rente nicht mehr leben können, die, trotzdem sie hart arbeiten, zu wenig Einkommen haben, die keinen „gut bezahlten Job“ haben (der Rat des notorischen Michael Braun auf unser Problem)? Was tut sie für Familien mit vielen Kindern, für Alleinerziehende mit kleinem Einkommen? – Sie treibt ihre Mieten in die Höhe!

Die Sorge um die drohende Verdrängung nervt und belastet uns. Es ist nicht schön, sich zu sorgen, wie man die Miete noch bezahlen soll, es ist auch traurig, seine langjährigen Nachbarn zu verlieren. Aber um es klar zu sagen: Wir wohnen gerne am Kotti. Das liegt

auch daran, dass unsere Freundinnen und Freunde, Familien und Bekannten hier leben. Wir unterstützen uns hier gegenseitig, ersparen der Stadt mitunter sogar den Pflegedienst. Wir feiern Feste zusammen und machen das Kotti zu einer einzigartigen Mischung. Wir sind Kreuzberg. Und zwar nicht erst seit „Arm aber Sexy“! Wir wollen bleiben!

 

Das Kotti und die Geschichte der Migration

Am südlichen Kottbusser Tor gibt es etwa 1000 Sozialwohnungen, die der GSW und der Admiral-Grundstücks GmbH/Hermes-Hausverwaltung gehören. Jede zweite Familie hier zahlt 40-50% ihres Einkommens für die Miete! Wir gehören zu einer der 16 so genannten

„problematischen Großsiedlungen“ der Kategorie I, für die bis 2011 unter Anerkennung der sozialen Lage der Bewohner_innen noch eine Mietobergrenze („Kappungsgrenze“) von 5,35€/qm festgelegt war. Ungefähr achtzig Prozent der Familien am „Kotti“ haben türkische Wurzeln. Das ist kein Zufall, denn unsere Migrationsgeschichte begann mit strengen Reglementierungen: erst durften wir nur in Wohnheimen leben, auch danach hatten die angeworbenen „Gastarbeiter“, unsere Eltern und Großeltern, nicht die Freiheit, sich eine Wohnung da zu suchen, wo es ihnen gefiel. Wegen der niedrigen Löhne zogen sie in die vernachlässigten Gebiete am Rande Westberlins.

Während 1989 das politische Personal Westberlins die Entlassung der Ostberliner_innen in die Marktwirtschaft feierte, erhielten viele von uns Stempel mit der „Zuzugssperre für den Bezirk Kreuzberg“ in unsere Pässe gedrückt. Unsere Erfahrung mit Entrechtung und Reglementierung in dieser Gesellschaft ist lang. Wir haben jedoch Kreuzberg zu unserem Zuhause gemacht. Und haben alle neu Zugezogenen, wie die Hausbesetzer_innen und die alternative Szene in den 1980ern, das grüne Bürgertum der neuen Mitte in den 90ern und die Künstlerinnen und Studenten der letzten Jahre integriert. Wir sind stolz auf diese Mischung, denn wir haben Kreuzberg erst attraktiv gemacht.

Was hat Verdrängung mit Rassismus zu tun?

Der Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Ephraim Gothe sagte uns auf einer von uns mitorganisierten Veranstaltung im Berliner Abgeordnetenhaus(am 29.2.2012), dass das Kotti mehr „Durchmischung“ brauche. Auch andere Politiker äußerten Ähnliches. Das ist schon verrückt, wie Vorstellungen und stadtpolitische Strategien in der Politik entstehen, ohne mit den Menschen vor Ort zu sprechen, ohne ihre Perspektive einzunehmen. Wir entgegnen, dass die „Durchmischung“ eine faktische Verdrängung der hier seid Jahrzehnten lebenden Anwohner ist. Wir sind bereits eine wunderbare Mischung! Wir fragen die Stadtentwickler_innen, wen sie hier durchmischen wollen? Warum haben unsere Rentner_innen, die nun „rausgemischt“ werden und die der Generation entstammen, die mit den Anwerbeverträgen in den 60ern aus der Türkei kamen, so kleine Renten, dass sie sich das Kotti nicht mehr leisten können? Sie haben die Bundesrepublik mit aufgebaut – schon damals zu niedrigen Löhnen – und jetzt reicht die Rente nicht mehr dafür, im angestammten Umfeld den wohlverdienten Lebensabend zu genießen. Auch dass unsere Arzthelfer, Bauingenieurinnen, Programmierer nur die schlecht bezahlten Jobs bekommen, und da- her noch über das Jobcenter aufstocken müssen, ist aus unserer Sicht Teil des strukturellen Rassismus auf dem Arbeitsmarkt. Wird das System der Benachteiligung, das Grundlage der Einwanderungspolitik dieses Landes ist, jetzt auf dem Wohnungsmarkt weiter fortgesetzt? Vom Jobcenter hören wir, dass wir doch nach Mahrzahn ziehen können, wenn wir die Miete nicht mehr bezahlen können. Wenn wir erwidern, dass wir dort wohl mit oder ohne Kopftuch nicht auf die Strasse gehen können, dann sagt der Jobcentermensch, es sei ihm egal. Aber wir wissen: es gibt ein Sicherheitsproblem in vielen Randbezirken. Spätestens seit den Morden von Solingen und Mölln und dem Pogrom in Rostock wissen wir, dass wir bestimmte Orte in West und Ost zu unserer eigenen Sicherheit meiden sollten. Jede weiß von Übergriffen zu berichten. Seit Bekanntwerden der NSU-Morde ist es noch einmal deutlich geworden: das Problem des mörderisch-gewalttätigen Rassismus ist nicht vorbei. No-Go-Areas sind immer noch Realität für viele Menschen.

Wenn die rot-schwarze Regierung nun behauptet, das Problem mit dem bezahlbaren Wohnraum durch die städtischen Wohnungsbaugesellschaften lösen zu wollen und nebenbei be- merkt, dass die Wohnungen alle im Ostteil der Stadt, also in vermutlich nicht nur für uns gefährlichen Stadtteilen, liegen, dann ist sie im besten Fall ignorant. (Um es nicht unter den Tisch fallen zu lassen: auch im Westen gibt es Gegenden wo wir nicht willkommen sind.) Das Land Berlin, muss die Verantwortung für ihre Bürger_innen übernehmen, die durch diese Wohnungspolitik nicht nur von Verdrängung, sondern potentiell Schlimmerem be- droht sind. Wir bleiben Kreuzberg!

Unsere Forderungen an das Land Berlin:

  • Sofortige Mietsenkung im sozialen Wohnungsbau, besonders in den „problematischen Großsiedlungen“!
  • Kommunalisierung des Sozialen Wohnungsbaus!
  • Übernahme der Verantwortung und der Wohnungen durch die Stadt – Umsetzung der sozialen Pflicht, bezahlbaren Wohnraum für schlechter Verdienende zur Verfügung zu stellen!
  • Rücknahme der Kostensenkungsforderung durch die Jobcenter.
  • Rückzahlung der zuviel gezahlten Mieten an die Mieter durch die Hausverwaltungen oder die IBB (analog zu der bis 2011 geltenden Kappungsgrenze von 5,35€).
  • Antirassistische Schulung für diejenigen Jobcenter-Mitarbeiter_innen, die es nötig haben.

Wir kämpfen gegen unsere Verdrängung und für unser Recht auf Stadt! Wir fordern die Politik auf, endlich zu handeln! Wir grüssen alle Mieter und Mieterinnen im Berliner (un-)sozialen Wohnungsbau und natürlich auch unsere Nachbar_innen und Freund_innen aus dem Vergleichsmietensystem. Es wird Zeit, dass „Arm aber sexy“ durch „Mietenstopp! – Nichts ist unmöglich!“ abgelöst wird.

Die Mieter und Mieterinnen am südlichen Kottbusser Tor organisiert in der Mietergemeinschaft Kotti & Co

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Empfohlene Literatur zur Geschichte des Sozialen Wohnungsbaus in Berlin:
Rose, Matthew D.. 2004. Warten auf die Sintflut. Über Cliquenwirtschaft, Selbstbedienung und die wuchernden Schulden der Öffentlichen Hand: Transit Verlag
Ulsen, Micha, Susanne Claassen. 1982. Das Abschreibungs Dschungelbuch. Geschäfte mit dem Wohnungsbau: LitPol Verlag