Seit Ende Mai (2012) steht unser Protest-Haus gegen hohe Mieten und gegen Verdrängung, unser Gecekondu*, am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Seitdem sind wir Tag und Nacht auf der Strasse, um gegen die Politik des Senates zu protestieren. Es reicht! Zu viele mussten schon wegziehen, zu viele von uns sind verzweifelt, weil die Miete so hoch ist. Der Senat tut faktisch nichts für die Mieter_innen hier.
Wir, die wir davon genug haben und entschlossen sind, uns dem entgegenzustellen, werden täglich mehr. Wir sind keine Einzelfälle. Die vielen Nachbarn die gestern noch sagten: “das bringt doch nichts” kommen jetzt zu unserem Gecekondu, machen eine Nachtschicht und nehmen an den Demonstrationen teil. Viele unserer scheinbar individuellen Probleme sind nur „privat“, solange wir uns nicht zusammenschließen. Wir spüren, dass wir gemeinsam stark sind und noch stärker werden können. Diese Erfahrung beglückt uns – und die wollen wir mit Ihnen teilen.
Unser Gecekondu ist ein offener Ort. Hier lernen wir uns bei eine Tasse Tee oder Kaffee (besser) kennen und tauschen uns aus. Wir organisieren Veranstaltungen, Filmabende und Konzerte, informieren über unseren Protest und über unsere Mieterrechte, treffen andere Menschen oder genießen einfach nur das Kotti im Sommer.
Alle, die zum Gecekondu kommen, sind herzlich willkommen. Es ist ein besonderer Ort, an dem wir alle zusammen dafür verantwortlich sind, dass sich alle wohl fühlen, dass es ein offener Ort ist. Wir von Kotti & Co, NachbarInnen und Interessierte, Freunde und Freundinnen, Tourist_innen und alle anderen. Mit all diesen Unterschiedlichkeiten ist es jetzt schon ein kleines Stück gelebter Utopie …
Hier geht es nicht um Multi-Kulti-, Integrations- oder Toleranz-Gerede. Es geht um den normalen Umgang zwischen verschiedenen Menschen. Wir tolerieren uns nicht nur. Wir sind neugierig aufeinander und begegnen uns mit Respekt. Jeder Mensch ist vielfältig. Dieses ist unsere Grundhaltung.
Wir danken allen, die sich schon in den letzten Wochen eingebracht haben, die Kuchen gebracht, die Schilder gemalt, ein Kinderprogramm organisiert, Veranstaltungen angeboten, Flugblätter verteilt, gespendet, ein Konzert gegeben, Filme zeigen, ihre Nachbarn mitgebracht haben, die hilfsbereit waren, die aufgeräumt und Blumen gebracht haben, die zu den Lärmdemos gekommen sind und auch allen, die einfach nur neugierig sind, sich Zeit nehmen und ihr Interesse und Ihre Solidarität bekunden. Danke – ohne Euch wären wir nicht so weit gekommen!
Wir wissen: wir sind eine Vielfalt der politischen und sozialen Meinungen, Einschätzungen, Geschichten und Lebensentwürfe. Wir sind MieterInnen. Mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelt, teilen wir ein Dach über den Kopf und vieles mehr – sowie eben auch den Ärger mit der Miete. Wir haben ein offenes Herz und diskutieren gern und manchmal auch nicht. Am Anfang unserer Organisierung war Respekt und Neugier füreinander. Und heute nach mehr als einem Jahr Kotti & Co und nach vielen Wochen im Gecekondu am Kotti wissen wir, dass wir das Richtige getan haben und Freundschaften und ein nicht zu übersehender Protest daraus gewachsen sind.
Wir haben uns nicht ausgesucht, diesen Kampf gegen die hohen Mieten zu führen. Der Kampf hat uns gesucht. Wir sind NachbarInnen, die politisch handeln müssen, weil die Politik unsere Probleme ignoriert. Aber in diesem politischen Kampf haben wir auch etwas Wunderschönes geschaffen: einen offenen Ort für alle, die kommen. Wir sind nicht nur Nachbarschaftstreff, sondern lernen in diesen Wochen/Monaten die verschiedensten Menschen kennen. Falls es manchmal von außen so aussehen sollte, als wollten wir „unter uns“ sein, muss man nur einen Schritt hinein wagen und kommt ins Gespräch.
Wir sind wie ihr, wie alle am Gecekondu, natürlich auch keine neuen Menschen – in uns spiegelt sich auch diese Gesellschaft mit all ihren Trennungslinien und Irritationen wieder. Parallelwelten aus Hartz IV und festem Job, Universität und Hauptschule, deutsch, persisch, arabisch, englisch, griechisch und türkisch sprechend usw. dick, dünn, alt, jung … Wir leben täglich tausend Widersprüche, Vorurteile, Schubladen. So wie diese Gesellschaft eben heute verfasst ist.
Wir wollen die Mischung trotzdem, wir lassen uns aufeinander ein. Nicht nur weil wir ein gemeinsames und dringendes politisches Ziel haben, sondern auch weil Nachbarschaft, weil ein Stadtteil, ein Kiez, so wie wir ihn erleben, genau so aussehen sollte. Auch dafür lohnt es sich zu kämpfen.
Was passiert?
Wir waren viel zu lange viel zu still. Die Probleme mit den steigenden Mieten und hohen Betriebskosten existieren schon seit Jahren. Viele hatten Angst vor ihrem Vermieter, Angst ihre Wohnung zu verlieren. Viele haben Stress mit dem Jobcenter, und viel zu viele haben resigniert, bevor sie angefangen hatten oder lange alleine gekämpft. Jetzt begegnen wir uns und erzählen uns davon, täglich viele Geschichten vom Terror der Vermieter und Jobcenter. Aber wir tauschen uns auch aus, geben viele Tipps und Tricks weiter. Kommen gemeinsam auf Ideen, wie wir uns wehren können, auf die wir nicht alleine gekommen wären.
Jetzt haben wir es in einigen Wochen geschafft, die Themen Verdrängung und hohe Mieten, sozialer Wohnungsbau und Rassismus in die Öffentlichkeit zu bringen. Über 90 Zeitungsartikel, Radiosendungen und TV Beiträge in diesen Wochen über unseren Protest erreichen viele Menschen in der Stadt und weit darüber hinaus. Unsere Internetseite besuchen täglich sehr viele Menschen und geben vielen, denen es ähnlich geht wie uns, Hoffnung und Kraft. Unser Protest-Gecekondu wird permanent von Menschen besucht, die untereinander und mit uns reden und sich austauschen. Sie sind wichtig. Du bist wichtig. Und dein Nachbar ist es auch.
Es ist Bewegung in der Sache: Nebst alle den vielen UnterstützerInnen und den Hunderten die zu den Lärmdemos kommen, hat sich sie Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg (Bezirksparlament) hinter uns gestellt. Die Oppositionsparteien unterstützen unsere Forderungen, es gibt erste Gespräche mit dem Senat – auch wenn Senator Müller sich über einen Monat Zeit gelassen hat um auf unseren offenen Brief zu antworten, sind wir zuversichtlich, dass wir erfolgreich sein werden. Noch zu langsam reagieren auch Verbände, Vereine und andere Organisationen, auf die Verdrängung, und unseren Protest. Gewerbetreibende aus der Umgebung zeigen ihre Solidarität usw. usf… Selbst die Hermes-Hausverwaltung unterstützt mittlerweile teilweise unsere Forderungen.
Um was geht es?
Wir am Kotti (GSW & Hermes Mieter) kämpfen für konkrete Dinge: wir wollen einen Mietenstopp für alle „Großsiedlungen“ (Wassertorplatz, Mariannenplatz, Düttmann-Siedlung, Rollbergviertel usf.) sofort (Mietobergrenze bei 4,-Euro/kalt).
Wir Ihr wisst: die Miete ist nicht nur im sozialen Wohnungsbau katastrophal hoch. Aber dort hat die Regierung direkten Anteil dran. Es gibt keine Mietobergrenze, obwohl seit Jahrzehnten Subventionen an private Eigentümer gezahlt werden. Die GSW nimmt viel zu hohe Betriebskosten – und obwohl es im Bauausschuss schon zwei Mal besprochen wurde, unternimmt der Senat nichts! Wir fordern deshalb eine Mietobergrenze von 4,-€ kalt, bis die Regierung was gegen die hohen Betriebskosten der GSW unternimmt.
Und wir reichen Anderen in der Stadt die Hand, die wie wir nicht einverstanden sind, dass sich Berlin weiter in eine unsoziale Stadt verwandelt, die nicht nur an Prestige-Objekten interessiert sind, sondern daran, dass die Menschen, die diese Stadt ausmachen, sie auch weiter gestalten können.
Es geht letztendlich um nicht weniger als eine soziale und nachhaltige Stadtentwicklungspolitik, die den Namen auch verdient. Es ist zu begrüßen, dass der Senat nun endlich das Problem mit den hohen Mieten zur Kenntnis nimmt. Doch die Politik rennt den Problemen nur hinterher. Für die bestehenden 160.000 Sozialwohnungen (plus 28.000 die aus der Nachförderung raus sind) und deren jahrzehntelange Mieter_innen hat Senator Müller noch nichts zu bieten. Über unsere Verdrängung hat er bisher im Wesentlichen nur einen Satz zu sagen: „Soziale Härten nehme ich in Kauf.“ …
Ideen, Visionen, Entwürfe für eine soziale Stadt kommen in diesen Tagen eher von den aktiven Bewohner_innen als von der Politik. Diese Menschen grüßen wir hier von Herzen und möchten sie (auch mit unserer Aktion) ermutigen, für ihre Vision einer Stadt, der Teilhabe und Rechte weiter zu kämpfen.
Wer sind wir?
Wir sind Kreuzberg! – und nicht erst seit gestern. Wir! Für uns gibt es keinen Begriff, keine Kategorie. Schon ihre Wörter spiegeln die Hilflosigkeit der Sprache wider, mit der man uns nicht mehr zu fassen kriegt: „Deutsche”, „Ausländer”, „Gastarbeiter”, „Menschen mit Migrationshintergrund”, „Deutsch-Türken”…usw usf…
Wir sind eine Gemeinschaft, die in der Welt von Sarrazin und vielen anderen nicht vorkommt. Wir sind Azubi, Rentnerin, Arzthelferin, Krankenpfleger, Bauingenieurinnen auf Hartz IV, wir sind Versicherungsvertreter, die Soziologie studiert haben, wir sind Metallbauerinnen, die ihre Doktorarbeit in Politik schreiben, Marktverkäuferinnen, Designer die im Kulturbetrieb arbeiten, wir sind Kinder von Leuten, die hier ihr Leben lang hart gearbeitet haben und mit den „Anwerbeverträgen“ kamen. Deutsch, türkisch, ein bisschen iranisch, tscherkessisch, afghanisch oder kurdisch oder …was auch immer das heißen mag. Einige von uns haben Namen, mit denen unsere Lehrer in der Schule nichts anfangen können, die glauben, wir schaffen keinen Schulabschluss. Wir kämpfen schon unser Leben lang mit dem Rassismus oder der sozialen Ausgrenzung, mit HartzIV und Altersarmut in dieser Gesellschaft. Wir sind alt, wir sind jung. Wir glauben an Allah, Gott, oder einfach an eine gerechte Gesellschaft.
Heute kämpfen wir dafür, zu bleiben. Was sollen wir in Mahrzahn oder Spandau? Da braucht’s dann wieder 50 Jahre um „interkulturelle Kompetenz“ und alternative Kulturen in die Mehrheitsgesellschaft zu tragen, um sie zu demokratisieren, um Schulen zu finden, wo unsere Kinder sich nicht mit Nazis prügeln müssen, um Theater, Moscheen, Kindergärten und Märkte zu bauen. Wir bleiben Kreuzberg. Wir bleiben Innenstadt. Wir bleiben gemischt.
Herr Senator Müller und seine Kollegen und Herr Bürgermeister Wowereit werden weiter von uns hören. Man kann uns nicht aussitzen. Es geht um unsere Existenz. Es geht um diese Stadt. Wir fordern unsere Rechte ein.
Es geht um das Recht auf Stadt. Es geht um hohe Mieten und gegen Verdrängung aus unserem Zuhause. Es geht darum, dass sich unsere Stadtteile in eine Richtung verändern, wie wir Bewohner und Bewohnerinnen es wollen. Heute geht es darum, dass wir uns an diesem Punkt treffen und unsere Solidarität zeigen. Wir sind Kreuzberg. Wir sind Berlin. Wir lassen uns nicht verdrängen.
Wie könnt ihr Euch einbringen? Zum Beispiel:
- Schreibt selbst Aufrufe in Eure jeweiligen Kreise hinein, an den Kämpfen gegen Vertreibung und soziale Ignoranz, gegen rassistische Segregation und für eine Stadt der Mieter_innen, teilzunehmen.
- Unterstützt uns mit unseren Schichten am Gecekondu.
- Hängt unsere Flyer und Plakate in Euren Häusern oder auf der Arbeit auf.
- Organisiert Veranstaltungen im Gecekondu, Konzerte oder Kindertage.
- Kommt vorbei und bringt eure Freund*innen mit zu den Demonstrationen.
- Trinkt einen Tee bei uns am Kotti.
- Schreibt Leserbriefe (Online und Offline)
Wir danken für die Aufmerksamkeit und verbleiben mit lieben Grüssen!
Kotti & Co im August 2012
Die Mietergemeinschaft am Kottbusser Tor
*Gecekondu, türk.: über Nacht erbautes Haus.