Offener Brief an Sozialsenator Czaja

+ + + OFFENER BRIEF + + + hier auch zum Download: Czaja_Brief_05.12.12 Kopie

Sehr geehrter Herr Senator Mario Czaja,

Berlin am 5.Dezember 2012

wir, die Mietergemeinschaft Kotti & Co, protestieren seit Pfingsten diesen Jahres (26.5.12) mit einem Pro- testcamp auf der Strasse, gegen die hohen Mieten im Sozialen Wohnungsbau und die Verdrängung aus unseren angestammten Kiez, unserer Heimat. Dieser Protest richtet sich gleichermaßen gegen die zu niedrigen Sätze für die „Kosten der Unterkunft“, also an die Politik Ihres Hauses.

Herr Czaja, Ihre Senatsverwaltung legt die Sätze der Jobcenter für die Kosten der Unterkunft fest. Wenn Sie das Thema Mietenentwicklung in den letzten zwei Jahren, über das das ganze Land spricht mitbekom- men haben, sollte klar sein, dass die derzeit festgelegten Sätze für die Kosten der Unterkunft geradezu phantasiehaft sind. Keine Neuvermietungsmiete in dieser Stadt liegt bei nettokalt 4,91€ pro Quadratme- ter für Ein-Personen Haushalte, oder bei 4,85€ bei 3 Personen. Desweiteren werden durch die WAV abso- lut unrealistische 1,44€ kalte Betriebskosten angesetzt.

Selbst der durchschnittliche soziale Wohnungsbau liegt mit 4,94€ und 1,76€ Betriebskosten bereits weit über dem vom Jobcenter festgelegten Satz! (vgl. KA 17/10484).

Am Kottbusser Tor kostet im Sozialen Wohnungsbau die NettoKaltmiete bereits um die 6,-/qm und es fallen kalte Betriebskosten von durchschnittlich 2,94€/qm an!
Diese Zahlen zeigen bereits, dass die von Ihrer Senatsverwaltung festgelegten Zahlen komplett an der Realität vorbeigehen. Nun werden hier, am „Kotti“,vom Jobcenter fast flächendeckend Aufforderungen herausgeschickt, die „Kosten der Unterkunft“ zu senken.

Damit wirkt der Sozialsenat, als Herausgeber der WAV und den darin enthaltenen Sätzen, hier als Verdrängungsmaschine.

Wir würden gern von Ihnen wissen, wie Sie Ihr Leben gestalten, wenn Sie noch 200,-€ nach Abzug der Miete übrig haben? Wie sollen wir dies tun, wie vor unseren Kindern die Sorge geheim halten, vielleicht ihr Zuhause zu verlieren? Denn es gibt im gesamten Kiez keine Wohnung mehr, die das Jobcenter genehmigen würde.

Da jedoch die meisten Menschen hier tief verwurzelt sind und alle Angehörigen, Freunde, Ärzte, Schulen, Kitas, Netzwerke in ihrem Kiez haben, kämpfen sie, kämpfen wir bis zum Letzten darum zu bleiben.
Was bedeutet das? Das bedeutet die Menschen zahlen aus den niedrigen Regelsätzen den Rest zur Miete dazu. Das bedeutet, dass an allem Anderen gespart wird, am Essen, an Kultur, an Bildung. Verschuldung, Überbelegung von Wohnungen, Verstärkung psychischer Krankheiten wie Depressionen oder Leben un- term sozial-kulturellen Existenzminimum sind direkte Folgen dieser Kostensenkungsaufforderungen. Die sozialen und gesundheitlichen Folgekosten dieser Praxis sind immens und verursachen neben den individuellen Leid auch einen volkswirtschaftlichen Schaden.

– 1-

Wir fordern Sie hiermit dringend auf, die Sätze für die Kosten der Unterkunft umgehend auf ein realistisches Maß anzuheben!

Das Argument, dass bei angehobenen Kosten der Unterkunft (KdU) auch die Vermieter ihre Miete anheben, zäumt das Pferd von hinten auf. Hier wird das schwächste Glied in der Kette, der HartzIV-beziehende Mieter oder die Mieterin zum Kampf gegen die explodierenden Mieten aufgefordert, der jedoch auf ganz anderer Ebene durch Ihre Regierung geführt werden muss.

Selbstredend will keiner eine weitere Aufwärtsspirale durch die Anhebung der KdU lostreten. Selbstredend muss hier die Politik Lösungen vorlegen wie das Problem von beiden Seiten angegangen werden kann ohne das wie Heute die Schwächsten ins Elend gestürtzt werden.

Im sozialen Wohnungsbau beispielsweise steigen die Mieten jährlich. Das ist gesetzlich so vorgeschrie- ben und diese Mieterhöhungen fließen direkt – nach Abzug der gesetzlich erlaubten Rendite – in die Begleichung der Schulden unserer Vermieter bei dem Land Berlin. Wir sanieren demnach mit unseren Mieten den Berliner Landeshaushalt. Fragen Sie bitte Ihren Kollegen Herrn Senator Müller, warum das so ist. Dieses bedeutet das eine jährliche Mieterhöhung von mindestens 0,13€/qm auf die Mieter zukommt. Jedes Jahr. (von den gestiegenen Betriebskosten ganz zu schweigen) Das ist im gesamten Berliner Sozialen Wohnungsbau so. Da kommen Ihre Sätze für die KdU logischerweise gar nicht hinterher. Und die diesjährige Anhebung der HartzIV-Sätze wurde direkt von der ebenso hohen Mieterhöhung aufgefressen, also ging sie direkt wieder zurück an den Landeshaushalt.

Wir fordern Sie, Herrn Czaja, und Ihre Senatsverwaltung daher auf, die „Kosten der Unterkunft“ im Sozialen Wohnungsbau pauschal für angemessen zu erklären!

Dass das System der jährlich steigenden Mieten im sozialen Wohnungsbau Wahnsinn ist, weiß mittlerweile die halbe Stadt, und dass die Mieten so teuer sind, weil die Häuser damals als Abschreibungsobjekte gedient haben, ist auch bekannt. Dass dies alles auf dem Rücken der MieterInnen und der SteuerzahlerInnen ausgetragen wird, halten wir für einen Skandal, den unter anderem Ihre Partei maßgeblich mit zu verantworten hat. 1

Inzwischen nehmen die angeordneten Zwangsumzüge auch im sozialen Wohnungsbau zu. Ein Beispiel verdeutlicht, wie sehr das Jobcenter daran beteiligt ist:

Eine fünfköpfige Familie, die 2007 in eine GSW-Sozialwohnung von 97qm ziehen wollte, erhielt vom Job- center die Genehmigung dafür nicht, da es diese bereits damals als zu teuer eingeschätzt hat. Die Familie zog trotzdem ein, da sie sich nur in Kreuzberg sicher fühlte. Andere Stadtbezirke hielt sie für zu unsicher. Aber über Rassismus und rechtsradikale Gewalt in der Stadt werden wir an dieser Stelle nicht weiter reden. Wohl aber über das Recht, sich seinen Wohnort selbst auszusuchen und das dort zu tun, wo keine Gefahr für Leib und Leben besteht!

Die Familie mit den drei schulpflichtigen Kindern zog trotzdem ein und bezahlte fortan nur das, was das Jobcenter an „Kosten der Unterkunft“ gewährte. Inzwischen sind dadurch Mietschulden entstanden und der Familie droht die Zwangsräumung. In den Verhandlungen mit der GSW teilte uns diese mit, dass, wenn sie die Miete auf den vom Jobcenter genehmigten Satz senken würde, sie nur noch 3,70 € nettokalt verlangen könnte. Sie sehen also, wo die tatsächlichen Mieten im sozialen Wohnungsbau stehen und wie unange- messen Ihre Sätze sind und wie dadurch Elend, Armut und Verdängung direkt produziert wird. Diese Politik ist das Gegenteil von sozial und einer Senatsverwaltung für Soziales aus unserer Sicht unwürdig.

Wir fordern Sie daher auf, die durch die zu niedrigen WAV-Sätze entstandenen Mietschulden durch die Jobcenter übernehmen zu lassen und weitere Zwangsumzüge zu verhindern!

Wir Mieterinnen und Mieter haben uns während Ihrer Untätigkeit in diesen Sachen auf den Weg gemacht und Lösungen für unsere Probleme gesucht. So haben wir unter anderem am 13.11.2012 im Abgeordnetenhaus von Berlin eine Konferenz zum Sozialen Wohnungsbau veranstaltet. Auf dieser Konferenz wurde in vier Arbeitsgruppen Möglichkeiten gezeigt und diskutiert, wo jetzt sofort und in Zukunft etwas anders gemacht werden kann, um die massive Verdrängung zu verhindern.

1) Falls Sie da Zweifel haben,sollten, empfehlen wir Ihnen folgende Lektüre: Mathew D. Rose: Warten auf die Sintflut. Über Cliquenwirtschaft, Selbstbedienung und die wuchernden Schulden der Öffentlichen Hand unter besonderer Berücksichtigung unserer Hauptstadt., Transit Buchverlag, Berlin, September 2004

– 2-

In der Arbeitsgruppe zu den Kosten der Unterkunft haben die anwesenden Expertinnen und Experten aus Beratung und Wissenschaft festgestellt, dass ein sofortiges Moratorium gegen die Aufforderungen zur Kostensenkung eingerichtet werden muss, sowie die Kosten der Unterkunft im Sozialen Wohnungsbau grundsätzlich für angemessen erklärt werden sollten, um weitere Verdrängung und Verelendung zu unterbinden. Außerdem wurde festgestellt, dass momentan 180 Millionen, die Berlin aus dem Bundeshaushalt für die Kosten der Unterkunft erhält, überhaupt nicht bei den Menschen ankommen. Der Sozialwissenschaftler Dr. Sigmar Gude stellte fest, dass mit diesen Geldern 30.000 Haushalte weniger die Forderung zur Kostensenkung erhalten würden.

Zu dieser Konferenz hatten wir die Zusage Ihres Staatsekretärs Herrn Büge! Wir wissen nicht womit er sich an diesem Tag rumgeschlagen hat. Jedoch dass er unentschuldigt nicht gekommen ist, fassen wir als ausgesprochenes Desinteresse an diesem brennenden sozialen Problem auf, als Absage an die engagierten Bürgerinnen und Bürger, die sich um Lösungen bemühen – obwohl das eigentlich Ihre Aufgabe ist, als Volksvertreter, die aus unseren Steuern bezahlt werden. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich dieses dringenden Problems annehmen und nicht weiter dazu schweigen.

Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe finden Sie als „Roadmap“ hier: roadmap_Ergebnisse KdU AG II

Betrachten Sie es als eine Chance für ihr Ressort, im Hinblick auch auf Partizipation neue Wege zu gehen und die Verschränkungen von Wohnungs- und Sozialpolitik wieder ins politische und öffentliche Bewusstsein zu holen.

Unsere inzwischen regelmäßigen Gespräche mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung lassen uns erwarten, dass es langsam auch ein Problembewusstsein auf Senatsebene über die Entwicklungen im Sozialen Wohnungsbau gibt. Ihr Haus hat auf die sozialen Folgen direkten Einfluss. Die Auswirkungen einer verfehlten sozialen Wohnungspolitik haben zunehmend auch immense Auswirkungen auf ihre Ressorts „Soziales und Gesundheit“.

Neben dem Erfüllen unserer Forderung nach sofortiger Anhebung der KdU und der Anerkennung der realen Mietkosten im sozialen Wohnungsbau, erwarten wir Ihr Engagement in dieser Sache um nachhaltige Lösungen gegen die Verdrängung der angestammten Bevölkerung und die immensen sozialen und gesundheitlichen Folgekosten finden.

Dieses geht, wie uns allen klar ist nur Ressortübergreifend. Daher auch die Aufforderung gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Modelle zu entwickeln. Es brauch hier, soviel sollte klar geworden sein, eine kurzfristige Intervention gegen die aktuelle Verdrängungsmaschine, sowie das Entwickeln nachhaltiger Lösungen zum Wohle, des Landes Berlins und seiner Mieter.

Wir erwarten Ihre Antwort auf diesen Brief bis zum 18.12.2012 und verbleiben bis dahin mit freundlichen Grüßen

Kotti & Co
Die Mietergemeinschaft am Kottbusser Tor

Ps.: Die Broschüre zu unserer Konferenz finden Sie unter:

UPDATE > 13. Nov. 2012 > Unsere Konferenz zum sozialen Wohnungsbau: „Nichts läuft hier richtig“

und die komplette Dokumentation der Konferenz (Video und Audios) hier:

Konferenz Dokumentation

kotti & co
Die Mietergemeinschaft am Kottbusser Tor

kottico@gmx.net

****
http://www.facebook.com: Kotti Undco

****
http://kottiundco.net