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Berliner WissenschaftlerInnen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Migration beschäftigen, sind auf den Protest von Kotti&Co aufmerksam geworden und sind zu dem Schluss gekommen: Dieses Angebot können wir nicht ausschlagen.
Am 12.September übergaben sie im Rahmen einer Pressekonferenz dem Senat für Stadtentwicklung und Umwelt eine Stellungnahme (siehe unten), in der sie die Bedeutung des Protestes für eine demokratische Einwanderungsstadt Berlin unterstreichen. Atiye Eksi, eine langjährige Anwohnerin am Kottbusser Tor, beantwortete auf der Pressekonferenz die Frage nach dem Zusammenhang von Verdränung und Rassismus so:
„Wenn man mich fragt, was Rassismus ist, dann zeige ich den Leuten meinen alten Pass, wo früher drin stand in welchen Bezirken ich wohnen darf – und in welchen nicht. Ich kam 1968 mit meiner Familie her, in der Zeit wo die Gastarbeiter penibel ausgesucht wurden, um die niederen Arbeiten zu machen und in den unattraktiven Bezirken zu wohnen, die niemand wollte wie z.B. Kreuzberg. Nachdem wir aus Kreuzberg das gemacht haben was es heute ist und mit den Nachbarn und Freunden hier schon eine Familie wurden, sollen wir jetzt raus, weil wir wiedermal nicht gut genug sind. Es ist ja nicht so, dass nur Türken und Araber hier leben und verdrängt werden. Es sind ja auch Deutsche, Spanier und viele mehr hergezogen, die ein Teil dieser multikulturellen Gesellschaft sein wollten und jetzt auch verdrängt werden, obwohl wir uns alle hier sicher und zu hause fühlen. Ich frage Sie: Wenn Berlin eine demokratische Stadt ist, wieso können wir uns nicht aussuchen, wo wir leben möchten das auch bezahlbar ist? Aber anscheinend sind die Opfer, die viele von uns über die Jahre bringen mussten, nicht genug. Wir haben ja auch noch unser zuhause, was wir ihrer Meinung nach aufgeben können.“
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Ein Angebot, das wir nicht ausschlagen können (PDF)
Ein Angebot, das wir nicht ausschlagen können
Ende Mai begann die MieterInnen-Initiative Kotti und Co, ein Sommerfest in ein Protestcamp am südlichen Kottbusser Tor in Berlin Kreuzberg zu verwandeln. Inzwischen hat sie sich hier in einer einfachen Bretterhütte eingerichtet. Ausgestattet mit einem Teekocher und Bierbänken, umgeben von Bannern und Logos, versorgt durch Familien und FreundInnen, unterstützt durch NachbarInnen und AktivistInnen, trotzen sie Regen und Hitze. Vor allem wehren sie sich erfolgreich gegen politische Strategien, die sie zu integrieren oder auszutrocknen versuchen und erheben Forderungen, wie sie diese Stadt schon lange nicht mehr gehört hat. Diese richten sich gegen die infiniten Mieterhöhungen im sozialen Wohnungsbau. Die MieterInnen fordern eine Kappungsgrenze von 4 Euro den Quadratmeter Netto kalt für ihre Wohnungen.
Als WissenschaftlerInnen mit sehr unterschiedlichen disziplinären Perspektiven auf Migration und Rassismus, aus Europäischer Ethnologie, Urban Studies, Postcolonial Studies, Soziologie, Sozial- und Kulturwissenschaften, als interdisziplinäre und unabhängige ForscherInnen zu Fragen der Einwanderungsgesellschaft und als NachbarInnen, die sehr gezielt die Geschichte und Gegenwart der Migration in Berlin im Blick haben, ist uns dieser Protest natürlich nicht entgangen.
Wir unterstützen Kotti und Co und ihr Gecekondu und setzen uns für ihre Forderungen ein. Unser Interesse ist dabei keineswegs einseitig und geht nicht nur von der Forschung aus. Denn nicht nur haben Studierende bereits zu Kotti und Co Abschlussarbeiten vollendet und KollegInnen Untersuchungen angesetzt, beteiligen sich viele an Protesten und diskutieren in den Seminaren ihre Erfahrungen auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Auch Kotti und Co richtet sich an die Forschung. Denn diese Initiative will noch in diesem Herbst eine Konferenz zum sozialen Wohnungsbau organisieren, durch die über die Frage des Wohnens in dieser Stadt breit angelegt gesprochen werden kann. Wir sind fest davon überzeugt, dass all das nicht geht, ohne eine Vision von Berlin als Einwanderungsstadt weiter zu entwickeln.
Mehr als Migration
Entgegen der medialen Berichterstattung, die Bilder wie „Türken werden aus Kreuzberg vertrieben“ bemüht, sehen wir in dem Widerstand, der sich am Kottbusser Tor artikuliert, eine Entwicklung, die weit über den Protest einzelner Gruppen hinausweist. Tatsächlich wohnen und protestieren am „Kotti“ nicht nur Menschen, die aus der Türkei nach Berlin eingewandert sind, von denen die meisten inzwischen ohnehin Deutsche sind. Das ist aber nicht das entscheidende Argument. Vielmehr thematisiert der Protest für uns alle die Bedingungen des Wohnens, des Lebens und des Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft dieser Stadt. Daher hat dieser Protest uns einiges über die Zukunft in dieser Stadt zu sagen – und das im positiven Sinne.
Dieser Protest wird auch Forschungen zu Migration berühren, was uns optimistisch stimmt. Denn wir sehen damit ein Ende der Forschungen kommen, die sich eine ethnische Minderheit vornehmen und deren Besonderheiten oder Integrationsbereitschaft untersuchen. Was verstehen wir, wenn wir Untersuchungen unter den alten Paradigmen der Ethnizität, kulturellen Identität und Integration vornehmen? Herzlich wenig. Das führt uns der Protest am Kotti vor Augen. Für eine Forschung zu Migration in dieser Stadt brauchen wir keine Forschung über MigrantInnen, sondern eine Forschung, für die Gesellschaft ohne Migration nicht denkbar ist.
Stadtgeschichte als Migrationsgeschichte
In den Protesten klingt ein Echo der Geschichte unserer Migrationsgesellschaft nach. Wir erkennen darin eine integrative Kraft, die in ihren demokratischen Formen ein Vorbild für gesellschaftliche Auseinandersetzungen ist. Viele der Protestierenden von Kotti und Co wohnen schon sehr lange in dieser so genannten problematischen Großraumsiedlung, und viele von ihnen gehören zu den ersten, die seit den 1960er Jahren damit begonnen haben, aus Kreuzberg einen Stadtteil zu machen, der heute multikulturell genannt wird. In den 1970er Jahren galt Kreuzberg, der Stadtteil entlang der Mauer, überwiegend als unattraktiv. Die Altbauten verfielen, MigrantInnen, denen in anderen Bezirken oft der Zugang zu Wohnraum verwehrt wurde, siedelten sich an. Gemeinsam mit HausbesetzerInnen brachten sie die Wohnungen in Kreuzberg in-Stand. Die später errichteten Neubauten am Kottbusser Tor wurden von ihnen belebt. Es entstanden Netzwerke und Nachbarschaften, in denen viele ihrer Familien und FreundInnen sich noch heute zu Hause fühlen. Ob es die Studierenden und Alternativen in den 1970er und 1980er Jahren waren oder die internationalen BewohnerInnen und TouristInnen der letzten Jahre: Die Veränderungen im Kiez haben sie immer mitgetragen. Und auch jetzt, wo die Klagen über die steigenden Mieten lauter werden und nicht wenige fälschlicherweise TouristInnen und hinzuziehende Kulturschaffende als Auslöser für die Mietentwicklung ausmachen wollen, stellen sich die AktivistInnen am Kotti nicht gegen die Neuankömmlinge, sondern suchen nach inklusiven Antworten. Das hat Aussicht auf Erfolg. Denn sie kennen sich mit Integration aus. Schließlich haben sie hier Orte geschaffen, in denen heute immer mehr Menschen leben wollen.
Neue Formen der Segregation?
Wenn selbst das Jobcenter für die Mieten im sozialen Wohnungsbau nicht mehr aufkommen kann, dann läuft längst etwas schief in dieser Stadt. Wie erste Stichproben von Forschungen belegen, entwickeln MieterInnen dazu eigene Erklärungen. Am Kotti und in vielen anderen Kiezen in Kreuzberg verstehen Menschen die Politik der Privatisierung von Wohnraum und die steigenden Mieten als altbekannte Botschaft: Man will uns hier weg haben. Sie leben mit der Erinnerung aus den 1970er Jahren als der Titel „Ghetto Kreuzberg“ mit einer einfachen rassistischen Gleichung einherging: Mangel an Wohnungen oder Arbeitsplätzen liege an zu viel Einwanderung. Vielleicht ist es aber auch ein Gespür für Diskriminierung, die durch Studien belegt ist: Wenn sie sich am Telefon mit ihrem Namen melden, ist die Wohnung – egal ob in Charlottenburg oder Kreuzberg – angeblich schon weg. Eine Erfahrung, die immer neue Formen annimmt. Zum Beispiel im Kreuzberger Düttmannkiez, wo BewohnerInnen plötzlich aufgefordert wurden, alle Satellitenschüsseln abzuschrauben. Zum Beispiel in der Fanny-Hensel-Siedlung, wo in einem Block nur die MieterInnen mit türkischen und arabischen Namen eine horrende Mieterhöhung erhalten hatten.
Und wenn es im Jobcenter heißt, man solle die eigenen Mietkosten senken oder sich in Marzahn oder Spandau eine Bleibe suchen, fragt man sich, was diese Aufforderung mit der Idee des Senats zu tun hat, für eine „bessere Durchmischung“ in Kreuzberg und am Kotti Sorge tragen zu wollen. Wenn es nur darum ginge, könnten Dahlem und Zehlendorf sicher auch eine „bessere Durchmischung“ vertragen. Neuere Statistiken dokumentieren, dass es zu einer zunehmenden Verdrängung armer Bevölkerungsteile an den städtischen Rand kommt. Diese Tendenz, die aufgrund der Geschichte der Migration die migrantische Bevölkerung zu einem prozentual höheren Teil trifft, können wir nicht teilnahmslos hinnehmen, sondern müssen uns dagegen stellen.
Auch Segregation scheint sich für viele am „Kotti“ in unbehaglich vertraute Erfahrungen einzureihen: Seien es die tradierten Geschichten, dass man in den 1960er und 70er Jahren überhaupt nur in Kreuzberg eine Wohnung bekommen hat bis hin zur Zuzugssperre 1975, wo Leute in ihren Pass einen Stempel bekamen, dass sie gerade hierher nicht mehr ziehen dürften. Obwohl solche Maßregelungen, selbst wenn sie ohnehin von den Strategien der Migration unterlaufen wurden, eine Zumutung sind, wurde eine Neuauflage auch zu anderen Zeitpunkten diskutiert. All dies ist im kollektiven Gedächtnis der BewohnerInnen enthalten und wird nun aktiviert. Doch damals wie heute ist nicht einzusehen, warum die BewohnerInnen in Kreuzberg sich ihren Wohnort nicht genauso wie die meisten anderen BerlinerInnen selbst aussuchen dürfen und dort leben und bleiben, wo sie sich sicher und Zuhause fühlen. Und das ist nicht überall in dieser Stadt der Fall.
Wohnen in der Einwanderungsstadt
In Zeiten der Krise, in denen Kommunen überschuldet sind und dies auf Dauer bleiben werden; in denen zu wiederkehrenden Höhepunkten im Süden Europas sich junge, gut ausgebildete Leute auf den Weg in diese Stadt machen, um eine Zukunft zu finden; in denen durch die Aussetzung des Europäischen Fürsorgeabkommens für viele EU-BürgerInnen der Zugang zu Sozialleistungen unterbunden wurde; in denen Kapital aus aller Welt Investitionen in Form von Immobilien und Land in dieser Stadt sucht – in diesen Zeiten ist der Protest von Kotti & Co zukunftsweisend.
Die Proteste von Kotti & Co handeln nicht nur von dem vermeintlichen Nischenthema „sozialer Wohnungsbau“ und sie betreffen nicht nur ein paar BewohnerInnen einer Neubausiedlung. Vielmehr sprechen sie über ein grundlegendes Thema (nicht nur) in dieser Stadt. Ob in Kreuzberg, Neukölln und anderen Bezirken geht es um steigende Mieten, um InvestorInnen, die ganze Wohnblöcke kaufen, um als nächstes ihre Profitstrategien zu verwirklichen. All das handelt von einer hässlichen Zukunft. Einer Zukunft von Städten wie New York oder London, in denen Mieten für winzige Wohnungen mehr als das halbe Einkommen verschlingen können, wo Menschen täglich mehrere Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln verbringen, weil sie sich keine Wohnung in der Stadt leisten können.
Eine andere Sprache des Protests
Kotti und Co haben angefangen, ihre Situation in die Hand zu nehmen, sich zu informieren, zu verstehen, was bei ihnen und anderswo vor sich geht. Sie tun dies, in dem sie ihren Protest auf die Plätze tragen und uns zum Tee einladen. Sie tun dies, in dem sie – wenn nötig – jeden Samstag Lärmdemos veranstalten. Am Kotti Gecekondu herrscht eine offene Atmosphäre, alle sind eingeladen, sich zu unterhalten, sich zu beteiligen, auszutauschen, ihren eigenen Protest zu formulieren.
Die Proteste von Kotti und Co handeln von einem Berlin als demokratische Stadt. Einer Stadt, die sich alle leisten können, einer Stadt, die kein Ghetto für Reiche wird. Wo unterschiedlichste Menschen in den Innenstadtbezirken zusammenleben können und Wohnraum bezahlbar bleibt. Das, was nicht nur die vielen TouristInnen in unsere Bezirke lockt, werden wir verlieren, wenn wir nicht das unterstützen, womit Kotti und Co jetzt angefangen haben.
Wir sind überzeugt: Nur eine breite Unterstützung und Vervielfältigung dieser demokratischen Praktiken ermöglicht es, dass Berlin in Zeiten der andauernden Krise ein lebenswerter Ort bleiben kann. Dieses Berlin, Ziel so vieler Menschen, die anders leben wollen und andere anders leben lassen wollen, kann sich nur behaupten, wenn wir Demokratie in dieser Stadt neu erfinden. Demokratie, das heißt eben auch: die Widersprüchlichkeit und das Mit- und Gegeneinander unserer Existenzen.
Die Proteste vom Kotti lehren uns, unsere Gesellschaft mit anderen Augen zu sehen – als eine Gesellschaft in Bewegung. Eine Perspektive, die auch für unsere Forschungen eine Bereicherung darstellt.
Das ist das Angebot von Kotti und Co. Und wir wollen es nicht ausschlagen.
Berlin im September 2012
- Dr. Manuela Bojadzijev (Humboldt Universität)
- Dr. des. Birgit zur Nieden (Humboldt Universität)
- Dr. Serhat Karakayali (Berlin, Universität Halle)
- Prof. Dr. Birgit Rommelspacher (Alice Salomon Fachhochschule)
- Prof. Dr. Juliane Karakayali (Evangelische Hochschule Berlin)
- Prof. Dr. Iman Attia (Alice Salomon Fachhochschule)
- Prof. Dr. Michal Bodemann (University of Toronto Berlin)
- Prof. Dr. Gökce Yurdakul (Humboldt Universität)
- Dr. Mark Terkessidis (Freier Autor, Berlin)
- Dr. Naika Foroutan (Humboldt Universität)
- Gastprof. Dr. Isabell Lorey (Berlin, Universität Basel)
- Prof. Dr. Regina Römhild (Humboldt Universität)
- Dr. Antke Engel (Institut für Queer Theory, Berlin)
- Prof. Dr. Werner Schiffauer (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder)
- Prof. Dr. Ina Kerner (Humboldt Universität)
- Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba (Humboldt Universität)
- Prof. Dr. María do Mar Castro Varela (Alice Salomon Hochschule)
- Prof. Dr. Nikita Dhawan (Goethe-Universität Frankfurt)
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