Wer ist schon gegen den Bau neuer Wohnungen angesichts der Wohnungsnot? Kaum eine_r findet eine Wohnung, die leistbar ist. Und siehe da, der Berliner Senat handelt mit dreijähriger Verzögerung und plant, neue zu bauen. Wer dagegen ist, wird als dumm und unsozial hingestellt. Und Ende im Gelände. So einfach ist der Diskurs um Stadtentwicklung und Mietenpolitik in diesen Tagen zu haben.
Wir als Mieter_innen vom Kotti können jedoch gar nicht anders, als aus der Perspektive unserer steigenden Mieten auf die politische Neu-Baustelle zu blicken.
Die Befürworter_innen der Initiative 100% Tempelhofer-Feld haben es allen Berliner_innen mit viel Engagement, unentlohnter Zeit und privaten Ressourcen ermöglicht, dass dieses stadtplanerische Vorhaben in diesen Tagen überhaupt in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden kann. Doch für diesen Demokratieeinsatz straft sie die regierende Politik mit Polemik: Sie seien „Verhinderer“ von Wohnungsneubau, „sie wollen keine Baustelle vor der eigenen Haustür“, es seien „Nein-Sager Initiativen“ die „keinen Fortschritt“ sondern „100% Stillstand“ wollen.
Nein. Der BERliner Senat wird sich seinen Masterplan für das Tempelhofer Feld nicht von so ein paar Unterschriften kaputt machen lassen. Man muss nur einmal in die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt am Fehrbelliner Platz gehen und dort in den Fluren der oberen Stockwerke und in so manchem Besprechungsraum die „schicken“ Pläne für die Bebauung des Feldes ansehen. Dann wird schnell klar dass diese Leute ihren „Feldherrenhügel“ nicht so einfach verlassen werden. Der andere Flughafen nervt schon genug. Auch deswegen muß das mit der Bebauung des Tempelhofer Feldes ein Erfolg werden. Koste es was es wolle!
Fliegen wir weiter, der Frage folgend, wer denn das Feld bebauen soll, welche Akteure hier an einem Strang ziehen, wer die Baufträge bekommen soll. Wer wurde gefragt? Öffentliche Wohnungsunternehmen, private Investoren – und ja, auch ein paar Akteure aus dem bürgerschaftlich-alternativ-kreativ engagiertem Stadtentwicklungsmileu sollen ein wenig mitmischen.
Neubau, so wurde die Stadtgesellschaft von ihren politischen Profis in den letzten 2 Jahren belehrt, ist die Lösung aller Wohnungs- und Mietennot. Neubau ist eine tolle Formel, der sich niemand entziehen kann: Neubau brauchen die Wohnungssuchenden und Neubau braucht die Bau- und Immobilienwirtschaft. Neubau braucht das Land. Neubau ist die Lösung?
Neubau kostet. Und weil Berlin pleite ist (Klingellingeling – hatte der Bankenskandal nicht auch was mit verschleuderten Baudarlehen zu tun?) und noch ein oder zwei Milliarden für das eine oder andere Prestigeobjekt braucht, soll hier der private Sektor das Ganze finanzieren. Und da die Privaten ja eben Geld mit den Mieten verdienen wollen, will unsere Regierung ihnen Geld spendieren, um ein paar wenige Wohnungen „bezahlbar“ zu machen. Damit meinen sie derzeit 6 – 8 € pro Quadratmeter. Am Kotti sind wir übrigens auf die Strasse gegangen, als unsere Mieten bei 6,-€ angekommen waren. Das ist für uns nämlich nicht mehr bezahlbar.
Doch die Lobby der Bauwirtschaft flüstert der Politik auf dem jährlichen Ball der Wirtschaft beim Tänzchen ins Ohr: „Wir brauchen Förderung, damit wir ‚bezahlbare’ Wohnungen bauen können! Und auch möglichst wenig Auflagen, damit die Investoren nicht doch nach China gehen“. Das scheue Reh will vorsichtig gefüttert werden im Steichelzoo der neoliberalen Stadt. Hello – beberlin.
Und das gefüttert werden werden muss, daran besteht seitens der regierenden Politik kein Zweifel. Und wir Mieter und Mieterinnen verstehen, dass wir, die Mieten, das Futter sein müssen. Da möchte der Senat doch gerne den Stillstand der Mieter_innen, statt Protestbewegung.
Aber keine Sorge, am Ende haben doch alle was davon, beruhigen die Medien für die Politik. Denn – oh Wunder der Marktwirtschaft – auch die Armen haben was von den Reichen! Sie nennen es „Sickerungseffekt“: die Reichen ziehen in die teuren Wohnungen und die billigen Wohnungen werden für die Armen frei. Klingt logisch. Sickerungseffekt klingt nach Erdanziehungskraft oder Flussdelta. Auch wenn das niemals und nirgendwo empirisch nachgewiesen wurde, beten Politik und Presse für die Öffentlichkeit dieses Wunder hoch und runter. Nochmals: der sogenannte „Sickerungseffekt“ auf dem Wohnungsmarkt ist noch nie und nirgendwo empirisch nachgewiesen worden. Nirgendwo. Niemals. Never. Ganz im Gegensatz zur Erdanziehungskraft, die gibts wirklich. Auch auf dem Tempelhofer Feld in Berlin.
Das Versprechen der „bezahlbaren“ Wohnungen von 8,-€/Qudratmeter kalt ist allerdings noch nicht mal im Gesetzesentwurf der Regierung, über den wir am 25.Mai abstimmen sollen, verankert.
Es ist frappierend, wie einfach es der Senat und die regierenden Fraktionen im Abgeordnetenhaus bisher hatten, mit fahrlässigen Verkürzungen, Unterstellungen und gröbster Polemik, es der 100%-Bürgerinitiative schwer zu machen. Aber klar – auch wir, obwohl wir gerne die Unterschriftenlisten zum Tempelhofer Feld Volksentscheid bei uns ausliegen hatten, fanden die 100% Forderung irgendwie schwierig. Braucht die Stadt mehr nicht mehr sozialen Wohnraum, so schön das leere Feld auch ist?
Die 100% Tempelhof-Initiative stellte jedoch fest: Es sind unzählige andere Flächen in der Stadt für Wohnungsneubau identifiziert. Dort könnte erst einmal ausprobiert werden, ob sich das Sickerungs-Effekt-Wunder vielleicht diesmal ereignet. Bei der Wohnungsnot in Berlin sind die geplanten (teuren) Wohnungen auf dem Feld sowieso nicht mehr als ein heisser Tropfen auf der Landebahn. Aber die Regierung tut so, als wären alle Feld-Fans für Stillstand und nur die regierenden Parteien für den Fortschritt.
Wir am Kotti wissen: vor allem brauchen wir Wohnraum, der auch für alle, die vom Amt leben müssen, zu bezahlen ist. Das Jobcenter zahlt bekanntermassen nur knapp über 5 Euro für den kalten Quadratmeter. Berlin entledigt sich seiner Armen. Daran wird kein Neubau heute etwas ändern. Arme haben keine Lobby. Mit Wowereits „arm aber sexy“ waren nie die Armen gemeint.
Um herauszufinden, was das Richtige für das einzigartige Feld von Tempelhof ist, braucht es Zeit und einen über die Parlarmentsvertretung hinausgehenden breiten und transparenten Diskurs, in welchem die Berliner_innen nicht nur mitbestimmen sondern auch mitverantworten, was in Zukunft passiert.
Schon jetzt aber können wir sagen, dass die Senatspläne alles andere als innovativ sind was soziale Gerechtigkeit angeht. Sie sind kurzsichtig. Und sie dienen nicht den Interessen der jetzigen Mieter_innen in Berlin. All die anvisierten Finanzierungsmodelle sind alles andere als nachhaltig und werden uns Berliner_innen noch lange direkt und indirekt auf der Tasche liegen. (Auf der zweiten Tasche. Auf der anderen liegt ja schon der Flughafen BER.)
Die Stadt Salzburg hat mit einem nachhaltigen Finanzierungsmodell ohne private Banken in ihrer Innenstadt gute Sozialwohnungen (!) zu einem Quadratmeterpreis von unter 5 Euro errichtet! Ein „best practice“ Modell der EU. Berlin jedoch verschläft so manche EU-Förderung und schmeisst unser Geld in schlechter PPP Manier (public private partnership) lieber der Immobilen- und -bauwirtschaft und den Banken hinterher. Diese Verweigerungshaltung der Berliner Politik ist 100% Berliner Sumpf. Oder Unwille. Oder Unfähigkeit. In jedem Fall ist sie undemokratisch und vor allem in keinster Weise nachhaltig. Sie ist antisozial, sie ist Anti-Berlin. Sie ist einer tollen Stadt wie Berlin unwürdig.
Was bei all dem komplett unter den Tisch fallen gelassen wird, ist die Frage nach bezahlbaren Wohnungen im Bestand. Während die Regierenden mit dem Tempelhofer Feld Propaganda für den Neubau machen, werden unsere Mieten erhöht. Im Stadtentwicklungsplan Wohnen (StEP Wohnen) wird ein Bedarf von 137.000 neuzubauenden Wohnungen prognostiziert und gleichzeitig werden 140.000 bestehende Sozialwohnungen durch Nicht-Handeln verspielt.
Der Senat und seine Verwaltungen ignorieren alle zur Diskussion gestellten Modelle zur Rettung der Sozialwohnungen. Sie scheren sie sich nicht um die Mittellosen dieser Stadt. Die Interessen der Immobilien- und bauwirtschaft werden der Stadtöffentlichkeit als alternativloses Allgemeininteresse verkauft. Allein schon deshalb ist es aus unserer Perspektive nötig, dem Senat und den regierenden Fraktionen im Abgeordnetenhaus ein Planungs- und Baumoratorium für das Tempelhofer-Feld aufzuzwingen. Und genau aus diesem Grund werden wir am 25. Mai 2014 den Volksentscheid der Initiative 100% Tempelhof mit unseren Stimmen unterstützen.
Und nein, wir sind nicht gegen Neubau.
Wir sind nur nicht doof.
Mit freundlichen Grüßen,
Kotti & Co, die Mietergemeinschaft am Kottbusser Tor
und darüber hinaus
Ps.: wer es gerne etwas weniger polemisch mag, dem sei unsere Broschüre zum Sozialen Wohnungsbau in Berlin nahegelegt. Dort findet Ihr gebündelte Fachexpertise zum Thema. >>> www.nichts-laeuft-hier-richtig.de